Fernwanderungen Via Francigena

Tag 22 – Netflix, Decke und eine heisse Schokolade

Von Abbadia San Lorenzo nach Aquapendente – 27,72 km

Bevor ich es vergesse, muss ich mit dem Morgen beginnen. Allora. Um etwa 07h40 haben wir das Albergo durch die Hintertüre verlassen und ein ruhiges, stilles Dörfchen erwartet. Wir trauen unseren Augen nicht. Eine Mini-Menschenmasse an Wanderern kommt von links, als ob wir an einer Wander-Autobahn wären. Um Himmels Willen! Was ist denn da los?

Uns fällt auf, dass mit den Typen irgendetwas ‚anders‘ ist. Erstens tragen sie kleine Rucksäcke, 2. laufen sie nicht mehr “rund” und 3. sind ihre Blicke Zombis ähnlich. Unsere Köpfe laufen auf Hochtouren bis – päng – die Lösung kommt. Seit Tagen laufen wir an diesen Schildern vorbei, das muss es sein.

Heute wird genau DER Tag sein! Ahaaa. Eine kleine Gruppe lässt sich in ein Gespräch verwickeln. Einer der 5 Wege des Ultramarathons startete gestern Morgen in Siena, das Ziel ist 120 km weiter in Auqapendente. Das ist auch unser Ziel. Kein Wunder sehen die so ‚leer‘ aus. Die laufen seit fast 24 Stunden. Wir treffen auf diesem Streckenabschnitt noch solche, die nur noch stolpern oder andere, die im Rückwärtsgang vorwärts springen.

Die grosse Masse an Marathönlern kommt in Ponte a Rigo zusammen, weil dort auch die kürzeren Wege von Radicofani herkommen. Es ist ja kaum zu glauben, aber als wir vielleicht 100 Schritte von dieser Wegzusammenführung entfernt sind, zeigt mir Peter die italienische Plapper-Reisegruppe, welche sich gestern für den Weg über Radicofani entschieden hat. Dazwischen liegen einige Dutzend Kilometer und viele Stunden. Wir haben uns alle gefreut, uns wieder zu sehen und sie haben uns sogar angeboten, unser Gepäck mitzunehmen. Einer der Wanderer musste aufgeben und ist neu als Reisebegleiter dabei. Wir lehnen dankend ab und laufen nach der Kaffeepause frohen Mutes weiter.

Die ganzen Menschmassen laufen die längere Variante bis nach Aquapendente über Stock und Stein. Wir haben soooo keine Lust, in diesem ganzen Geschnatter mitzulaufen, dass wir den Weg am Strassenrand wählen. Das will was heissen, denn das mögen wir überhaupt nicht. Kleine Streckenabschnitte sind zum Teil drei, vier Meter von der Strasse entfernt und schenken uns den Eindruck, dass wir gar nicht in Italien wandern.

Schottland könnte es auch sein. Oder wir sehen eine super schöne Trattoria (man suche die Katze), die leider voll ist.

Das Laufen heute macht irgendwie keinen Spass. Erstens ist es neblig trüb, es regnet zwar kaum, aber der Wind bläst uns um die Ohren. Ergo, man sieht nicht wirklich viel. Dann geht ein Teil des Weges nur über Steinwege, die anstrengend und mühsam sind oder über Asphalt, der in die Knie geht. Eigentlich hätte ich diesen Tag auch ganz gerne unter der Kuscheldecke, mit einer warmen heissen Schokolade in der Hand und der Netflix-Fernbedienung erlebt. Oder doch nicht? Etwas in mir freut sich auf einen solchen chilligen Sonntag und etwas anderes ist so so so so gerne draussen und läuft und läuft und läuft.

Apropos laufen. Ich habe heute noch richtiges Glück im Unglück. Auf dem Streckenabschnitt “Asphalt” war ich gedanklich nicht beim Laufen sondern irgendwo. Das führte dazu, dass ich dem Weg keine Aufmerksamkeit schenkte und zack passierte es. Ich knickte ein, mein Muskelkaterbein konnte nicht richtig ausgleichen und ich liege wie ein Käfer inmitten der Strasse. Alles ging so schnell, dass ich nur mitbekommen habe, wie mich Peter wie eine Kartoffel an den Strassenrand schiebt. Safety first.

Die Sporthose ist hin, mein Knie lädiert und meine Hand hat ordentliche Arbeit geleistet. Etwa 50 Meter vor dem Ziel knickt Peter auch noch ein, kann sich aber meisterlich auffangen.

Wir sind dankbar. Dankbar dafür, dass unsere Körper so tadellos und meisterlich funktionieren. Dankbar für den Wettersegen. Dankbar auch, dass wir heute nur gestolpert oder sanft gestürzt sind. Auch wenn es heute mehrheitlich grau war, am Ziel hat uns schon wieder die Sonne begrüsst. Apropos Ziel. Unser Tagesziel ist ja auch das Ziel all dieser Marathönler. Das hat uns dieses Gefühl geschenkt, von Menschen in den Gassen begrüsst zu werden, die uns applaudierten oder gratulierten und von weitem hörten wir auf dem Hauptplatz dieses Lied:

Irgendwie lustig, irgendwie passend, irgendwie auch nicht – egal, es hat was. Wenn ich könnte, dann würde ich jetzt tanzend einlaufen. Jetzt geht es ab ins Albergo. Gestern konnte Peter noch eines der letzten Zimmer ergattern. Jetzt wissen auch wir, warum das so ist.

Bleibt gesund!


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