Fernwanderungen Via Francigena

Tag 19 – Peter muss mich ER-tragen

Von Siena nach Ponte D’Arbia – 27,2 km

Das B&B in Siena ist super zentral gelegen. Wir hatten gar keine grosse Zeit, noch etwas zu chillen, als die Uhrzeit uns an Apéro und Nachtessen mahnte. Der Inhaber des B&B hat uns zwei Restaurants empfohlen, weg von der Piazza del Campo. Überraschenderweise regnete es leicht, als wir vor die Haustüre traten. Also hopp in die nächstgelegene Bar und den Apéro dort geniessen. Wir sassen keine 2 Minuten drin, fegte ein kleines Gewitter über Siena und schütte die Wolken leer. Dieser Umstand führte dazu, dass wir das nächstgelegene Restaurant suchten und in diesem schönen Restaurant fein diniert haben.

Peter wollte unbedingt noch irgendwo einen Schlumi nehmen, aber die Bars waren alle geschlossen. Dafür konnten wir Siena by night mit ganz wenig Touristen geniessen. Die Empfehlung von Srini haben wir kurzum im Zimmer getestet. Um Himmels Willen – ist das ultragiga lecker, einmalig, wow, mmmmhmmm, mega! Danke für diesen Tipp. Die Welt ist ohne diese Süssigkeit definitiv ein Stück trauriger. Die nächsten Tage werden wir uns immer mal wieder einen Biss leisten und uns komplett dem sinnlichen Genuss hingeben.

Langsam, aber sicher komme ich in den Pilgerrhythmus. Das bedeutet konkret, sehr früh ins Bett gehen (spätestens 21h30) und um 06h00 aufstehen. Leider bringt dieses frühe Aufwachen nicht sehr viel, denn im Gegensatz zum letzten Jahr, als wir im Frühling auf dem Camino Primitivo unterwegs waren, ist es jetzt Herbst. Der Morgen ist noch stockdunkel. Also noch einmal umdrehen, später aufstehen, Mails checken, anziehen, packen und gehen.

Wir haben keinen Proviant mehr und das Wasser ist auch fast alle. Aus diesem Grund halten wir beim Verlassen von Siena Ausschau nach einem Alimentari. Die neuen italienischen «Duweisstschonwasichmeine»-Regeln verunsichern uns etwas. Müssen wir jetzt beim Laufen auch Maske tragen? Gilt es schon ab heute Donnerstag? Wenn wir alles mit Maske laufen müssten, dann brechen wir ab. Das geht ganz einfach nicht. So wie Peter abgeklärt hat, darf man bei sportlichen Aktivitäten im Freien auf Maske verzichten. Nun werden wir ja sehen, ob Pilgern als sportliche Aktivität verstanden wird oder nicht.

Gerade als wir unser Wasser, die Bananen und die Schokolade im Rucksack verstaut haben, kommt uns in den engen Gassen von Siena ein Polizeifahrzeug entgegen. Es wird langsamer, hält aber nicht uns auf, sondern gleich den Fahrradfahrer hinter uns. Er wird gebeten, umgehend eine Maske anzuziehen. Oha. Somit haben wir eine erste Antwort. Pilgern ist sportliche Aktivität, Fahrradfahren nicht (oder zumindest nicht mit einem Citybike).

Ausgangs Siena sehen wir eine Bar und gönnen uns einen Kaffee und etwas Süsses. Die ganze Belegschaft hier ist so aufgestellt und fröhlich. Gerade bestellt eine alte Dame Brot an der Theke. Die Verkäuferin und sie kennen sich und sie wird mit «Buongiorno Principessa» begrüsst. Einfach herzlich!

Meine Füsse sind seit Tagen sehr ok. Seit 3 Tagen hatte ich Probleme mit dem Aussenmuskel des linken Oberschenkels. Und jetzt? Jetzt merke ich die Leiste. Ich hätte mein Yoga einfach nicht runterfahren dürfen, dann würde mir nicht jeden Tag irgendwo irgendetwas den Start schwer machen. Es ist mir unangenehm, dass ich mal wieder die ersten Meter im Humpel-Schritt neben Peter herlaufe. Kommt hinzu, dass wir jetzt in der Nebelsuppe sitzen.

Dabei ist genau diese Etappe für die Weitsicht bekannt. Ich fühle mich schwer, jeder Schritt zieht mich irgendwie tief in die Wege hinein und die frisch gekauften Bananen wiegen gefühlt 20 Kilogramm.

Mein Angebot, dass Peter sein Tempo läuft und ich dann schon ankomme, schlägt er aus: „Das ist keine Option.“ Ich merke, dass ich dieses Geschenk annehmen kann, darf und soll. Und dass ich mir keine Gedanken darüber machen kann, darf und soll, wie doof er mich jetzt findet. Er will bei mir bleiben, also soll es so sein.

Die Landschaft ist der Wahnsinn des Wahnsinns! Die Toskana war auch sehr schön und das hier ist die grosse Schwester oder so. Wie muss es wohl sein, wenn man diesen Weg ohne irgendwelches Stechen, Zwacken, Pochen oder Brennen erleben darf? Ich will das erleben. Eines Tages. Definitiv.

Ich brauche heute mehr Pausen und der Geduldsfaden von Peter wird immer dünner. Keine Ahnung was es ist, ich fühle mich so schwer, mich zieht es hinunter und dann scheint auch noch diese Sonne den ganzen Tag! Ich weiss, es ist auf hohem Niveau gemotzt – ABER – einfach nur wahr.

Zudem – warum verdammt noch Mal – gibt es in diesem Land so wenige Sitzbänke? Nirgends kann man Pausen machen und wenn man schon im «Ich-brauche-dringend-eine Pause-Level» ist, dann wird jeder Meter hässlich.

Seit 19 Tagen sind wir nun zu Fuss unterwegs. Wir haben schon vieles von Italien gesehen (und doch so wenig). Dieses Land ist so reich an diesen vielen guten Sachen wie Reis, Mais, Wein, Oliven und hier kommt das Korn hinzu. Die Kornfelder werden bereits wieder auf das neue Jahr vorbereitet und schwere Traktoren mit riesigen Pfluganhängern durchwühlen die dunkle Erde.

Peter ist ja so der «Gring-abe-und-Seckle-Typ». Ist sein Navi auf das Ziel eingestellt, dann läuft er los wie ein Roboter. Tak, tak, tak, tak, tak. Schaut man ihm zu, sieht man seine lange Militärerfahrung. Da gibt es kein «mir-tut-etwas-weh» oder «eine-Pause-wäre-jetzt-schön». Genau dieser Typ läuft jetzt neben mir her. Auch ich kann beissen, etwas durchziehen. ABER. Ich bin kein Roboter weil ich keiner sein muss. UND. Ich habe diesen Schalter nicht. Diesen «Ich-funktioniere-jetzt-egal-was-kommt»-Schalter.

Das Atmen fällt mir heute auch schwer – wie alles an diesem Tag. Himmel noch Mal, dabei ist es soooo schön hier. Ich fokussiere mich auf Dinge, die mir gefallen, damit ich das Denken weg von diesem pochenden Schmerz in der Leiste bringe. Nicht mal das gelingt mir heute. Peter ist freundlich gereizt und ich will es nicht auf die Spitze treiben. Also sage ich bei seinen Fragen, wie es mir geht, dass es geht. Ich weiss, dass er weiss, dass er es weiss.

Nach einer letzten Pause, knapp 3 km vor dem Ziel, knicke ich ein, mein Muskel hat für eine Sekunden den Geist aufgegeben. Jetzt reicht’s Peter wirklich. Er schnappt sich meinen Rucksack auch noch und läuft die letzten 3 Kilometer mit beiden. Mir tut es gut und ich bin froh, als wir endlich in der Herberge Centro Cresti ankommen. Wir haben ein Zweierzimmer, können heiss duschen und jetzt kommt der absolute Wahnsinn! Es gibt hier eine Waschmaschine UND einen Tumbler. Das heisst, wir können endlich unsere Sachen wieder «fein schmöcki» machen und sie erst noch trocknen. Das hebt meine Stimmung umgehend an.

Ich werde mir nun die Fotos und Videos anschauen und einfach vergessen, dass ich neben den Schuhen heute war. Danke Peter fürs ERtragen und Danke von Herzen dafür, dass du mit mir den Weg machst. Ab jetzt heisst es schonen, schonen, schonen und um 20h45 gibt es dann Nachtessen.

Buon Cammino.

Ups. Fast hätte ich etwas mega Lustiges vergessen. Kennt Ihr diese Aufziehhunde noch? Die gab es an den Jahrmärkten zu kaufen. Man konnte ein Schlüssel drehen und so wurde ein Motor aufgezogen. Stellte man dann den Stoff-Hund auf die Beine, bellte dieser und bewegte sich. So was haben wir heute in echt gesehen. Wenn der kleine Kläffer nur wüsste, dass wir ihn so überhaupt nicht Ernst genommen haben. 🙂


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