Fernwanderungen Via Francigena

Tag 11 – Die ersten Tränen fliessen

Von Camaiore nach Lucca – 24,8 km

Gestern Abend gingen wir ins wunderschöne Städtchen Camaiore und suchten zuerst eine Farmacia (habe mein Magnesium liegen lassen), dann einen Schuhladen (ich muss was für meine Füsse machen) und dann die Trattoria. Magnesium hat geklappt, Schuhe nicht und das Essen war so so so so so so lecker – unfassbar.

Zwei Tische neben uns sass ein deutsches Paar mit einem Kleinkind und unterhielt sich mit zwei Pellegrinos, die auch in unserer Herberge im selben Raum wie wir schlafen. Irgendwann sagte der deutsche Urlauber, er könnte niemals ein Zimmer mit anderen teilen, leiste sich deshalb ein Hotel. Schon seltsam, wenn man denkt, es hat mit Luxus zu tun, nicht in einer Herberge schlafen zu müssen. Diese Übernachtungen in Herbergen sind immer was ganz Besonderes und können mit einer Hotelnacht einfach nicht verglichen werden. Gerne hätte ich ihm gesagt, er solle es mal machen.

Unser Pilgerfreund aus Schweden wird noch einen Tag in Camaiore bleiben und gönnt sich eine Auszeit. Ich beneide ihn einerseits, auf der anderen Seite freue ich mich sehr auf Lucca.

Die Tagestour sieht vor, dass wir zwei heftige Anstiege haben und eben auch wieder zwei Abstiege. Wenn ich heftig schreibe, meine ich nicht Bergtouren à la Schweiz. Ich meine so à la Alpstein.

Kaum sind wir gestartet, stoppt mich Peter in einem Waldstück und zeigt auf eine etwas entfernte Stelle. Er flüstert: „Was ist das dort?“ Wir bleiben stehen, wagen kaum zu Atmen, denn es sieht nach etwas Grossem aus. Ein Reh? Ein Hirsch? Ein Elch? Ich sehe nur so etwas wie Flügel? Ein Adler? Mein Herz schlägt schneller und binnen Sekunden lachen wir beide laut heraus. Es ist ein Pilger, der am Waldrand übernachtet hat und seinen Schlafsack ausschüttelt.

Weil wir heute diese Auf- und Abstiege haben, zwänge ich mich in meine Trekking-Schuhe. Meine Füsse sind etwas aufgequollen und deshalb ist es etwas zu eng. Es muss sein, die anderen Schuhe geben mir zu wenig Halt.

Die Landschaft ist der Wahnsinn. Das Laufen ist irgendwie wie eine Dauerserie. Immer wieder etwas Neues. Das Wetter spielt perfekt mit, es ist sommerlich warm und der Wind kühl herrlich ab.

Es kam, wie es kommen musste. Es fühlte sich so an, als wenn ich auf Fleischmocken durch die Gegend wandere. Jeder. Schritt. Ein. Schmerz. Es ist so ein elendigliches Gefühl, wenn die Beine mögen, der Kopf will und die Füsse streiken. Warum nur muss das sein? Was verstehe ich nicht? Mir laufen die Tränen ungebremst herunter. Mein Vorschlag, dass Peter vorauslaufen soll und ich dann schon irgendwie nachkomme, lehnt er ab.

Auf dem ganzen Weg finden wir keine einzige Sitzbank. Aus der nächsten Steinmauer, die nicht zu hoch ist, machen wir dann unsere Sitzbank. Fertig. Peter zaubert mir ein bequemes Ruhebett und untersucht meine Füsse. Alles wäre eigentlich gut. Da ist keine Blase, die wirklich schmerzt. Kurzerhand nimmt er die Einlagen der Schuhe raus und siehe da, es funktioniert. Bequem ist anders, aber eingequetscht bin ich nicht mehr.

Das Asphaltlaufen ist auch heute Standard und ich spüre, dass meine Fussgelenke die Schnauze voll haben davon. Jaaaa, ich weiss, es tu weh. Aber hallo? Wir müssen zu unserer Schlafstelle kommen, sonst wird das nix mit ausruhen.

Irgendwo auf der Strecke laufen wir an Fussballfeldern vorbei. Wir hören lautes Reden und Lachen und denken uns – hier muss es etwas zu Trinken geben. Und so ist es. Zuerst werden wir zwar kräftigst von einem kniehohen Wuffi angebellt, als ob wir die ärgsten Feinde der Nation sind. Einer der Chefs des ortsansässigen Fussballvereins bringt Wuffi zum Schweigen und holt uns ins Zelt hinein. Dort sitzen sie, alles ältere Männer, sie reden, nein sie schnattern wie wir Frauen und spielen an den Tischen ein Kartenspiel. Was für ein unbezahlbares Erlebnis.

Ich glaube, ich habe heute meine Schmerzgrenzen ausgelotet. Viel mehr geht nicht und sonst einfach nur heulend laufen oder laufend heulen. Die letzten 1‘000 Meter waren für mich die Hölle. Peter mauschelt irgend etwas an seinem Handy – ah er hat ein Zimmer für uns gefunden. Die Herbergen haben hier wegen der hohen Auflagen für «Duweisstschonwasichmeine» geschlossen. Das Glänzen in seinen Augen verratet mir, dass er was im Schilde führt. In Lucca angekommen laufen wir durch diese wunderbaren alten Gassen, alles ist so schön. ABER. Ich möchte endlich, endlich gerne den Rucksack, meine Schuhe und meine Socken loswerden.

In einer Seitengasse laufen wir zwei Mal die selbe Gasse hoch und runter, bis Peter stehen bleibt und bei einer alten schweren Türe einen Code eintippt. Die Türe springt auf und ich sehe nur Treppen. Scheissegal. Hoch mit dir. Ganz oben angekommen empfängt und Erica schon. Sie merkt, ich bin ziemlich durch, öffnet gleich das Zimmer und das sehe ich:

Genau in dem Moment, als ich a) gesehen habe, welches Zimmer Peter für uns reserviert hat und b) dass wir morgen einen Ruhetag einbauen – ist die Welt für mich wieder P.E.R.F.E.K.T.!

Buona Notte


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