Camino Fernwanderungen

Sonnenschein hilft bei Untertreibung – eventuell

Bei der Ankunft gestern waren wir die ersten, die Herberge aber noch geschlossen und vor dem Eingang wartete eine nette bequeme Sitzmöglichkeit auf uns. Es fühlte sich an wie in den Ferien, bis ich zurück in der Realität und somit bei meinen pochenden Fersen war. Ein super sympathisches Paar führt die Herberge und ihr Hund ist der Wahnsinn. Keine Ahnung was das für eine Rasse ist – aber einen solchen würden wir uns dann zutun, wenn wir pensioniert sind (Anmerkung der Redaktion: Peter ruft von hinten ganz laut WÜRDEN).

Peter kennt die Herberge von seinem ersten Camino Primitivo und seine Versprechungen bezüglich der Paella waren nicht zu gewagt. An einem grossen Tisch mit 12 Personen assen und tranken wir. Rüd von Rotterdam und Nancy von Calgary haben unseren Abend bereichert. Das Kennenlernen und sich immer wieder auf dem Weg treffen, einen Schwatz machen oder sich einfach in einer fremden Stadt über ein bekanntes Gesicht freuen – das gehört auch zum Camino.

In unserem Zimmer gibt es total 7 Betten, zwei sind von uns belegt, die anderen von einer spanischen Männer-Wander-Senioren-Truppe aus Valencia. Also die Spanier sind ein seltsames Volk. Die haben nicht mal die Paella gegessen – denn ihre – aus Valencia – sei viiiiel besser. Das wäre ja so, wie wenn ich in Zürich keine Bratwurst essen würde, weil in St.Gallen diese besser sind. Ähm …. Ich fühle mich irgendwie grad ein wenig ertappt. *bigsmile*

Um halb sechs sind dann die Herren alle mehr oder weniger nicht leise aufgestanden, der beste Wecker für uns. Richtig genervt hat diese Nacht so ein Gerät, welches sich alle 3 Minuten aufgeladen hat und so ein surrendes tiefes Geräusch verursacht hat. Zum Glück waren wir ganz einfach viel zu müde, um ums länger als 10 Sekunden darüber aufzuregen.

Gestern beim Nachtessen haben wir zu viert noch alle Wetter-Apps gecheckt – entweder sind wir allesamt zu doof oder wir können nicht lesen. Wir haben schlechtes Wetter erwartet und sehen heute Morgen einfach nur einen stahlblauen Himmel. Es ist eisig kalt und das bleibt es bis zum Mittag. Peter hat die Route so geplant, dass wir am Samstag und Sonntag nur noch zwei kleinere bis nach Santiago de Compostela haben: knapp über 30 Kilometer – das sollte zu schaffen sein.

Ich bin fit und es läuft sehr gut. Auf dem Camino Primitivo findet man selten ein Café oder eine Bar, wo man was trinken oder essen kann. So sind wir nach 14 km richtig happy, ein Sandwich und eine warme Tasse Kaffee geniessen zu können. Es schmeckt einfach herrlich, wenn man Hunger hat. Ein uns bekannter Pilger – wir nennen ihn nur Speedy Gonzales – stolpert auch in diese kleine Hütte. Der Typ ist aus einer anderen Kategorie: Nicht zu Fuss, nicht per Bike, nicht auf dem Ross – der Typ fliegt irgendwie. Auch eine Art Camino.

Nach dieser kurzen Rast geht es weiter und Peter steckte die Kopfhörer zum ersten Mal ein, um ein wenig Trance zu hören. Er lief vor mir. Obwohl es viele Streckenabschnitte gibt, bei denen wir die letzten 11 Tage gar nichts gesagt haben, war dieses Schweigen komplett anders. Ich habe förmlich gespürt, dass er «weg» ist. Ich frage mich, ob es im Sinne des Caminos zielführend ist, sich über die Ohren abzulenken. Es hält einen vom Hier und Jetzt fern. Manchmal kann das ja gewollt sein, sehr wohl. Ich denke aber, ein Camino ist dann tiefschürfend, wenn man sich so wenig wie möglich ablenkt.

In Melide (Spanien, nicht Schweiz) mündet der Camino Frances in den Camino Primitivo und päng – alles ist plötzlich anders. Dieser Weg ist sehr populär. Er ist zwar viel länger, knapp 900 Kilometer, dafür aber auch viel weniger anstrengend (Höhenmeter). Was diesen Abschnitt aber besonders anders macht ist die Tatsache, dass ab jetzt sogenannte Tagestouristen auf dem Weg sind. Hey – das ist ja crazy! Da hat man Menschen an Rollatoren oder mit Gehstöcken oder ganze Truppen von Amis. An jeder Ecke gibt es Muscheln (ich habe immer noch keine gekauft), Pins und Buffs. Der Bär tanzt hier und da lebt eine Branche sehr gut von all diesen Pilgerinnen und Pilgern.

Meine Uhr zeigt mir, wir sind bei Kilometer 28 und ich freue mich, dass es nicht mehr lange zur Pension ist. Irgendwas mit 31,4 oder so hat Peter heute Morgen gesagt. Sehr unerwartet, aber heftig fängt meine rechte kleine Zehe so sehr an zu schmerzen, dass ich nur noch so halbhumpelnd vorwärtskomme. Später stellt sich heraus, dass ich – egal – es tut einfach sauweh.

Peter – längst wieder ohne Ohrstöpsel – V E R S U C H T mich zu motivieren. Doch wie soll das gehen so ganz ohne Schokolade? Er überlegt nicht lange und versucht es mit Untertreibung. Hey, das geht nur noch 20 Minuten, maximal, einmal noch runter und dann geht es kurz und heftig steil aufwärts und schon sind wir da.

Ok, es geht runter und ich interpretiere, es ist dieses Runter und dieses Rauf. Falsch. Hmmm, vielleicht habe ich ihn ja falsch verstanden. Noch ein Versuch 25 Minuten später. Das muss es nun sein. Wie in Trance kämpfe ich mich den Hügel hoch mit der pochenden Zehe – und siehe da – es ist wieder nicht dieses Rauf und dieses Runter. Ich werde so richtig sauer und könnte nur noch losheulen. Oder fluchen. Oder beides. Ich verzichte auf alles und gehe meinen Weg. Still und demütig. Aber spürbar wütend (so zumindest sagt es Peter grad).

Am Fusse von Ribadiso dann endlich die befreiende Botschaft – DAS ist nun DAS Rauf. Ok. Ich gebe alles und freue mich so sehr auf die Herberge, welche er mir vor über 30 Minuten per Fingerzeig gedeutet hat und dann – dann ist dieser wunderschöne Schlafplatz AUSGEBUCHT! Hey, ich meine – Scheiss drauf – komm lass und noch das letzte leichte Rauf nehmen, damit wir in der Stadt eine Herberge finden. Ich bin längst über das Heulen hinaus. Jetzt ist es – bei einem kühlen cerveza – ein über sich selber Lachen und mich darüber freuen, das wir nach 36 Kilometer ein Bett zum Schlafen und eine warme Dusche gefunden haben.

Buen Camino


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