Gedankenhygiene

Bist du ein Aussenseiter?

Stell dir folgendes Szenario vor. Eine riesengrosse Menschenschar läuft im Gleichschritt in einem Tal ohne Sonnenlicht dicht aneinandergedrängt, Mensch an Mensch, Schritt auf Schritt. Alle sind grau in grau gekleidet. Alle schauen auf den Boden, damit sie wissen, was auf sie zukommt. Du bist einer dieser Menschen.

Eines Tages passiert es. Etwas ganz Ungewöhnliches. Du hörst ein feines helles Grollen und unverhofft kullert ein Stein in der Grösse einer Walnuss vor deine Füsse. So etwas hast du noch nie gehört und schon gar nicht gesehen. Du bist total fasziniert von der Tatsache, dass von irgendwo her ein Stein angerollt kommt und dieser auch noch so schön ist. Fasziniert hebst du ihn auf und musst dabei höllisch aufpassen, dass du nicht vom Menschen hinter dir überrumpelt wirst. Er zischt dich ziemlich heftig an: “Geh mir aus dem Weg. Du störst. Was soll das!” Und schon bist du wieder brav in Reih und Glied.

Den Stein hast du an dich genommen, fest umschlossen in deiner Faust. Es lässt dir einfach keine Ruhe mehr. Woher kommt dieser Stein? Warum ist er so schön, wenn doch alle immer sagen, dass auch in dieser anderen Welt nicht alles Gold ist was glänzt.

Mit jeder Minute, jeder Stunde und jedem Tag wächst deine Sehnsucht, den Ursprung dieses Steines zu finden. Du tust etwas, was «man» absolut nicht macht als Teil dieser Tal-Gesellschaft. Den Blick aufrichten und sich orientieren. Schon beim ersten Versuch wirst du von den Menschen links und rechts von dir zurechtgewiesen. «Hallo. Hör auf mit dem Scheiss. So was tut man nicht.» Oder: «Du denkst nur an dich. Es geht um das Gemeinwohl. Niemand schaut hoch. Also auch du nicht.»

Du senkst den Kopf wieder, denkst dabei aber daran, wie du an den Rand des Tales kommen könntest, denn von da muss ja der Stein heruntergrollt sein. Gedacht, getan. Du schiebst dich Schritt für Schritt vorsichtig und möglichst unauffällig an den Rand der Gesellschaft – du wirst zum Aussenseiter. Diese braucht es nun mal, weil es ja zwei steile Wände nach oben gibt und daher ist immer irgendjemand ein Aussenseiter oder eine Aussenseiterin.

Mit dem Stein in der Tasche ertastest du langsam die Wand. Wieder setzt es Schläge auf den Hinterkopf oder Schubser in den Rumpf. Dir ist es egal, wie man mit dir umgeht. Der Reiz, etwas Neues zu entdecken ist stärker als der Schmerz der Ablehnung.

Dann, eines schönen Morgens ist es soweit. Du bist parat. Jede Faser deines Körpers ist angespannt, dein Herz rast und du warst nur auf den Moment der Momente. Du nimmst einen Satz und erklimmst einen ersten Vorsprung hoch hinauf an die Felswand. Was dann geschieht, hättest du dir niemals vorstellen können. Heerscharen von Menschen versuchen, dich an den Füssen zu schnappen. Sie wollen dich wieder hinunterzerren und rufen dabei Dinge wie: «Schuster bleib bei deinen Leisten!» Oder: «Du doch nicht!» Oder: «Bist du jetzt ganz durchgeknallt?»

Du schaffst es, die Meute abzuschütteln und hetzt los in Richtung Spitze. Ohne einen Blick zurück. Als sich die ersten Steine unter deinen Füssen lösen realisierst du, dass wohl schon andere Menschen vor dir da hochgeklettert sind und dass du einen solchen Stein gefunden hast.

Ausser Atem und mit pochendem Herz kommst du oben an. Ein kleiner Vorsprung noch und dann siehst du etwas Atemberaubendes. Da oben scheint die Sonne, die Wiesen sind grün und satt. Es gibt Bäume mit Äpfeln, Sträucher mit Beeren, duftende Blumen und – Menschen. Andere Menschen. Menschen die lachen, die Freude am Leben haben. Die sich bewegen, die einfach in der Sonne liegen, die lesen, die tanzen, die tun, was auch immer sie tun wollen und können.

Als sie dich sehen, begrüssen Sie dich herzlich mit den Worten: «Schön, dass du es dir wert bist, ein gutes Leben zu leben. Herzlich Willkommen!»

Die Frage stellt sich nun: Was bist du? Eine/r vom Tal oder eine/r vom Berg? Ich selber bin noch nicht ganz oben, aber ich sehe sie schon. Diese tanzende fröhliche Meute. Aber definitiv bin ich nicht mehr im Tal. Und ich werde da auch nie nie nie mehr hingehen.


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